Veröffentlicht: 09.11.2022 | Aktualisiert: 09.11.2022 | Mit (*) sind Partner-Links gekennzeichnet
Wenn ich an einem Tag gleich zweimal etwas über Menschen lese, deren Werke „frappierende Ähnlichkeiten“ zu ihren Vorbildern aufweisen, dann beschäftigt mich das gedanklich. Zumal es in beiden Fällen Männer sind, die sich offenbar an den Ideen ihrer weiblichen Vorbilder bedient haben – ohne die »Inspirationsquelle« in irgendeiner Weise kenntlich gemacht zu haben. Nun sind zwei Fälle keine statistisch valide Stichprobe, aber da ich die Thematik aus eigenem Erleben mit Kollegen auch kenne, triggert mich das gerade.
Rose Macaulay und Aldous Huxley
Der erste Fall ist mir in der Rezension von Christina Mohr begegnet. Sie bespricht Rose Macaulays dystopischen Roman »Was nicht alles«*, der 2022 erstmals auf Deutsch erschienen ist. Das englischsprachige Werk hat Macaulay bereits 1918 unter dem Titel »What not« veröffentlicht – und damit 14 Jahre, bevor Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«* erschienen ist.
Huxleys »Schöne neue Welt« bzw. »Brave New World« ist (zusammen mit George Orwells »1984«) fester Bestandteil von Lehrplänen in Schulen. Huxley ist mir ein Begriff, Rose Macaulay war es bisher nicht. Von Huxleys Roman gibt es mindestens zwei Bearbeitungen als Graphic Novel (eine illustriert von Reinhard Kleist*, die andere von Fred Fordham*), von Rose Macaulays Werk gibt es das nicht.
Im Vorwort der englischen Neuauflage von Macaulays Roman weist nun die Dozentin und Journalistin Sarah Lonsdale auf »zum Teil frappierende Ähnlichkeiten« zwischen »Schöne neue Welt« und »Was nicht alles« hin.
Es gibt zwar keine Belege dafür, dass Huxley »What not« gelesen hat, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass er und Macaulay sich gekannt haben. Beide waren in den 1920ern regelmäßig Gäste im Literatursalon einer gemeinsamen Freundin. Kann also gut sein, dass, wie Christina Mohr in ihrer Buchbesprechung schreibt, sie „sich dort womöglich über eine zukünftige ‚schöne neue Welt‘ respektive ‚was nicht alles‘ unterhielten.“
Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoğlu
Über den zweiten Fall stolperte ich am Abend desselben Tages. Zur Entspannung höre ich gerne Podcasts, unter anderem das Literaturmagazin »Zeichen und Wunder« des WDR. Im (sehr lebendigen) Interview war die diesjährige Georg-Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar; ich hatte anschließend Lust, mehr über sie und ihr Werk zu erfahren.
Bei der Recherche entdecke ich ziemlich bald, dass auch hier, wie der Journalist Christoph Schröder formuliert, „die literarische Verwertung von Fremdmaterial“ vorgekommen ist. Offenbar weist der Roman »Leyla«* von Feridun Zaimoğlu „auffällige und zahlreiche Parallelen“ zu Emine Sevgi Özdamars autobiographischem Roman »Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus«* auf. Zufälligerweise hat auch sie ihr Werk 14 Jahre vor Zaimoğlu veröffentlicht.
Die Autorin verzichtet auf eine juristische Auseinandersetzung – möglicherweise, weil sie und ihr Kollege Zaimoğlu im selben Verlag veröffentlichen. Trotzdem steht der Plagiatsvorwurf im Raum, denn 2006 wird der Fall intensiv in den Feuilletons deutscher Zeitungen diskutiert.
Was daraus folgt?
Global gesehen: vermutlich nichts.
Für mich: Ich werde die Bücher von Rose Macaulay und Emine Sevgi Özdamar lesen, um mir ein eigenes Bild zu machen. Wenn sie als Vordenkerinnen für ihre männlichen Kollegen gedient haben, könnte sich das mehr lohnen, als sich weiter mit den »inspirierten« Huxley und Zaimoğlu zu beschäftigen.
Hi, ich bin Viktoria.
Ich bin Illustratorin, Autorin und Dozentin. Ich erzähle mit Bildern.
Meine bevorzugte Zeichentechnik ist die Skizze, meine liebsten Medien sind Tusche und Aquarell. Ich forsche mit dem Stift in der Hand und liebe es, Menschen, Gebäude, Orte, Handwerkliches und Alltägliches zeichnend zu dokumentieren.
Die Resultate sind graphische Reportagen, häufig in Form von handgebundenen Künstlerbüchern.